Pflegen heißt, alles das für einen hilfebedürftigen Menschen zu tun, was dieser selbst für sich tun würde, hätte er die Kraft, den Willen und das Wissen dazu.
Virginia Henderson
Es war nur ein kurzer Bericht, kaum mehr als 3 Minuten. In der ZDF-Mediathek (Heute Journal 26.5.09, Pflegeskandal in bayrischem Altersheim) kann die Sendung abgerufen werden, in der es um Todesfälle in einem bayrischen Pflegeheim ging.
Die Probleme und Konflikte, die sich darin spiegeln, sind zum Teil typisch für den Pflegebereich. Aus einer allgemeineren Perspektive lassen sich aber auch Grundkonflikte erkennen, die sich wohl durch alle Berufsfelder ziehen und Fragen aufwerfen, die nicht nur Pflegekräfte betreffen.
Im "Normalfall" dringen solche Vorgänge nicht an die Öffentlichkeit. Um den eigenen Arbeitsplatz zu behalten, wird über so manches der Mantel des Schweigens gehüllt, auch wenn es aus einer fachlichen oder juristischen Sicht bedenklich ist. Loyalität gegenüber der Einrichtung und den Vorgesetzten, Angst um den Arbeitsplatz - da wird eben toleriert, was sich noch einigermaßen tolerieren lässt. Aber hier ging es eben um Menschenleben, um gefährliche Pflege, um Straftatbestände. Logischerweise ermittelt dann auch die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung, heißt es im Bericht des ZDF.
Ein anderer Aspekt des Dramas betrifft die "Nestbeschmutzerin", die mit ihrem Problem an die Öffentlichkeit ging - sie hat gekündigt und bekam Hausverbot, das später zurückgezogen wurde.
Als ehemaliger Zivildienstleistender in einem Pflegeheim der Diakonie darf ich einen gewissen Einblick in das Berufsfeld für mich in Anspruch nehmen. Natürlich gab es dort immer wieder Situationen, in denen es um Medikamente und pflegerische Probleme ging, die ärztliche Unterstützung notwendig machten. Aus einer fachlichen Perspektive ist es also korrekt, bei Bedarf einen Arzt zu rufen.
Wie kann eine Stationsleitung einer Pflegekraft verbieten, ihren Beruf ernst zu nehmen und im Notfall einen Arzt zu rufen? Die Einzelheiten im konkreten Fall lassen sich nur erahnen, aber es dürfte bereits deutlich sein, dass die Situation mehrere Ebenen hat.
Das Verbot, ärztliche Hilfe zu rufen, bringt die Pflegekraft in einen Gewissenskonflikt: eine Dienstanweisung zu befolgen bedeutet hier, fachlich und juristisch Bedenkliches zu tun. Juristisch gesehen bedeutet das nicht nur "fahrlässige Tötung", sondern auch "Aufforderung zu einer Straftat".
Nun hat dieses Verbot aber auch eine organisatorische Seite... denn eine Stationsleitung steht eben auch in einer Hierarchie, in der möglicherweise Hinweise gegeben wurden, wie in solchen Fällen zu handeln sei...
Dass hier ein Organisationskonflikt vorliegt, ist sehr wahrscheinlich. Das Problem tritt nicht auf, wenn für einen Bereitschaftsdienst gesorgt wird, der rund um die Uhr erreichbar ist. Qualitätsmanagement bedeutet in der Regel, dass konkret festgelegt wird, in welchen Fällen Rücksprachen erforderlich sind.
Der Fall Dinkelsbühl geht aber auch in die Richtung Mobbing - die Bezeichnung "Nestbeschmutzerin" ist ein klares Indiz dafür. Auch dann, wenn die klassischen Kritierien (mehrere Mobbinghandlungen pro Woche über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten) nicht erfüllt sind - Diana Feilhauer hat ihren Job gekündigt und das bestimmt nicht ganz freiwillig. Zivilcourage ist unerwünscht, fachlich und juristisch korrektes Verhalten wird bestraft - Hausverbot!
Die Frage ist, auf welcher Ebene eine solche Konfliktsituation lösbar ist. Wenn solche Dinge an die Öffentlichkeit dringen, wirft das auch einen Schatten auf die Diakonie. Der Ärger von Angehörigen, die viel Geld für einen Heimplatz bezahlen und zusehen müssen, wie das Ersparte der eigenen Eltern nach und nach verschwindet, ist verständlich. Die Frage nach dem Selbstverständnis der Diakonie bedeutet konkret: was für Mitarbeiter wollen wir haben? Was sind handlungsleitende Prinzipien im Pflegeberuf, handlungsleitende Prinzipien in Sozialberufen überhaupt? Welchen Raum lassen soziale Einrichtungen für fachliche Autonomie und welchen Stellenwert haben Rahmenbedingungen, die in Sozialberufen das Handeln "nach bestem Wissen und Gewissen" ermöglichen?
Möglicherweise steht noch ein weiteres Konfliktfeld hinter dem "Fall Dinkelsbühl" - die Frage der Ökonomie nämlich. Vielleicht ging es hier darum Kosten zu sparen, die anfallen, wenn ein Arzt zu Rate gezogen werden muss (?) - denn eine Stationsleitung, die korrekterweise eine Pflegeausbildung haben müsste, kann sehr wohl einschätzen, wo die Grenzen der pflegerischen Möglichkeiten sind.
Die Vermutung liegt also nahe: letzten Endes geht es um Geld. Fachlich korrekt zu pflegen kostet eben Geld. Wenn die Station unterbesetzt ist... dann wird eben auch die Pflege auf das Allernötigste beschränkt. Ja, früher war das ja alles anders... da gab es noch Diakonissen, die natürlich im Pflegeheim wohnten und rund um die Uhr da waren, ihr ganzes Leben der Pflege widmeten. Heute wollen die Leute ja auch noch Feierabend und Urlaub haben, wie schrecklich! Rein betriebswirtschaftlich betrachtet liegt hier ein großes Problem: gerade der Anspruch, Pflege rund um die Uhr sicher zu stellen macht einen Heimplatz so teuer. Als weitere Ebene kommen also die Kostenträger dazu, die natürlich Geld sparen wollen. Konsequent zu Ende gedacht, geht es also immer auch um Gesundheitspolitik.
"Dinkelsbühl ist überall" heisst es noch im Beitrag des ZDF. Es ist absehbar, dass die "Nestbeschmutzerin" so manche Absage bekommen wird, weil man "so jemand" nicht im eigenen Hause haben will. Wenn man sich die Situation einmal genauer ansieht, wird erkennbar, dass es hier um einen persönlichen Konflikt geht, der auf einer individuellen Ebene nicht zu lösen ist. Der genannte Aufnahmestopp für das Pflegeheim wird ökonomische Probleme auslösen - vielleicht wird das Heim geschlossen. Die Kalkulation jener, die lieber den Mund gehalten haben, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren, würde dann langfristig doch nicht aufgehen... aber selbst dann, wenn es alle getan hätten, wenn es in Deutschland normal wäre, zum eigenen Fachwissen, zur eigenen Erfahrung auch zu stehen, stellt sich die Frage, wie groß der Spielraum der Heimleitung wirklich war.
Hier bleibt eine große Lücke... Pflegekräfte haben keinen Einfluss auf die Rahmenbedingungen, die über die Möglichkeit angemessener oder bedenklicher Pflege entscheiden. Man erwartet von ihnen, dass sie den Mund halten und funktionieren, wie das in vielen anderen Bereichen auch der Fall ist.
Vor mehr als 25 Jahren brachte eine diakonische Helferin (also: im Freiwilligen Sozialen Jahr) mit der provokativen Formulierung "Psychopharmaka statt Liebe" lebhafte Diskussionen in einem Pflegeheim in Gang. Bis heute rechne ich es dem Heimleiter hoch an, dass diese Diskussion überhaupt zugelassen wurde und nicht unterdrückt wurde. Auch das kann Diakonie sein... Selbst einmal in einem solchen Heim zu landen ist und bleibt trotzdem für mich persönlich der allergrösste Albtraum.
Dinkelsbühl ist auch eine Frage an die Menschlichkeit der Gesellschaft überhaupt - und eine Frage an eine Politik, die Schwierigkeiten damit hat, Rahmenbedingungen zu schaffen, die fachlich angemessene Pflege überhaupt erst möglich machen. Dinkelsbühl ist eine Frage an die Zivilcourage von Arbeitnehmern, nicht nur in Dinkelsbühl, nicht nur in Bayern, nicht nur im Pflegebereich. Dinkelsbühl ist eine Frage an den Respekt vor Berufsbildern und ihrer spezifischen Ethik, eine Frage an Führung, Organisation und Management, eine Frage an den Umgang mit solchen Konfliktfeldern - und eine Frage nach einem Rahmen, in der über Vorwürfe und Schuldzuweisungen, über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft hinaus Lösungen erarbeitet und realisiert werden können. Es geht dabei auch um Standards - und die Möglichkeiten, ihnen auch gerecht werden zu können.
Juristisch gesehen müsste eine Pflegekraft einfach das Recht haben, einen Arzt zu rufen, wenn sie es für notwendig hält - ob es der Stationsleitung nun passt oder nicht.
Organisatorisch gesehen müsste eine Einrichtung fachlich kompetentes Verhalten ermöglichen und fördern - und eben nicht verhindern.
Aus der Arbeitnehmerperspektive geht es um das Recht, Anweisungen zurückzuweisen, die fachlich oder juristisch bedenklich sind. Aber davon scheinen wir weit entfernt zu sein - wer es tut, wie es in Dinkelsbühl geschehen ist, hat seinen Job verloren. Für den Umgang mit Konflikten bedeutet das: Konflikte werden zuerst unterdrückt und dann "beseitigt" - aber nicht wirklich gelöst. Die Stationsleitung jedenfalls wurde erstmal "beurlaubt". Jetzt, nachdem es schon mehrere Todesfälle gab...
Supervision... gab es dort wohl nicht. Da war wohl niemand, der den Konflikt um den Ruf nach einem Arzt erkannte und klären konnte...
Es wird noch mehr Tote geben, es wird im Pflegebereich wie in vielen anderen Berufsfeldern auch noch viele Mobbingprozesse, Kündigungen und Entlassungen geben, weil solche Konflikte schön brav unter den Teppich gekehrt werden. Und DAS ist der eigentliche Skandal.
Hallo Rolf,
AntwortenLöscheninteressante Gedanken lese ich da von Dir.
Im Grunde sind also Hierarchie und Geld Corpus Delicti.
Es wird aus beiden oft ein Hehl gemacht, oder aus eines von diesen beiden. Wenn Machtstrukturen gegeben sind, aus welchen Gründen auch immer, oder Finanzverhältnisse nicht klar dargelegt werden sollen oder können, aus welchen Gründen auch immer, dann läuft ein argloser und vielleicht hochmotivierter Mensch ins offene Messer.
Vielen Dank für Deine persönlichen Gedanken.
Hallo Mona,
AntwortenLöscheninzwischen habe ich auch klare Hinweise gefunden, dass eben auch Leute fehlen - Unterbesetzung also ist noch ein Faktor, der schnell zu Spannungen, Hektik und Stress führt. Vorübergehend kann man Engpässe in der Pflege ausgleichen, aber als Dauerzustand macht es die Pflege notwendigerweise schlechter. Juristisch macht man dann einzelne Personen veranwortlich - aber die Bedingungen, die zu gefährlicher Pflege bis hin zur fahrlässigen Tötung führen können, die stellt man nicht "vor Gericht". Wenn immer mehr Menschen immer älter werden - na dann kommt ein dickes Problem auf uns zu...
Die Justiz muss man auf jeden Fall überdenken.
AntwortenLöschenGute Nacht Rolf.