Psychosophie

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In der Begegnung mit anderen Menschen können wir uns selbst und andere besser verstehen lernen. Wenn wir miteinander sprechen, begegnen sich subjektive Welten. Vielleicht entstehen daraus Einsichten, die für das je eigene Leben von Bedeutung sind.

Sonntag, 21. Juni 2009

Wilhelm Schmid über die Klugheit

Was ist eigentlich Klugheit? In seiner "Philosophie der Lebenskunst" beschreibt Wilhelm Schmid 7 Begriffsmomente, die zur Klugheit gehören. In der Hoffnung, seine Überlegungen etwas leichter verständlich zu machen, möchte ich diese Begriffsmomente etwas vereinfachen und als handlungsleitende Prinzipien darstellen.

1. Eigeninteresse: "Tue das, was deinem eigenen Interesse nützt"

"Eigeninteresse" setzt er dabei nicht mit "Egoismus" gleich: "Eigeninteresse ... bedeutet, dass es einem Selbst um sich und sein eigenes Leben geht, dass es davon ausgehend seine Interessen vertritt und dafür auch Nachteile in Kauf nimmt" (PHL, S. 222).

2. Aufgeklärtes Eigeninteresse: "Bedenke, was für andere und im Zusammenhang gut ist"

Die eigenen Interessen unüberlegt und unsensibel zu verfolgen, wäre unklug... das aufgeklärte Eigeninteresse besteht also in einer Erweiterung des Horizonts, in dem nicht nur das Umfeld, sondern auch die Zusammenhänge berücksichtigt werden.
"Klugheit ... verkörpert das Wissen davon und das Gespür dafür, was nicht nur jeweils 'für mich' gut ist, sondern was 'im Zusammenhang' gut ist." (PHL, S.223).

Dazu gehören vier Aspekte:
a) die Rücksicht
b) die Umsicht
c) die Vorsicht
d) die Voraussicht

Wie könnte die praktische Umsetzung dieser Gedankengänge aussehen? Welche Fragen können hilfreich sein, wenn es etwa darum geht, kluge Entscheidungen zu treffen?
"Rücksicht" scheint zunächst auf "Rücksichtnahme" zu deuten, gemeint ist aber eher der "Rückblick", was sich aus der Beschreibung "retrospektiver Aspekt" ergibt. Eine Entscheidung ist im Sinne der Rücksicht (nach W.Schmid) also klug, wenn sie die Zusammenhänge in ihrer Entstehung und die eigenen Erfahrungen be-rücksichtigt. Fragen könnten sein: wie habe ich in ähnlichen Situationen bisher gehandelt und welche Erfahrungen habe ich damit gemacht? Wie sind die Zusammenhänge, in denen ich lebe, historisch entstanden, gewachsen, wie haben sie sich verändert?
"Umsicht" bezieht sich auf die aufmerksame Wahrnehmung - kluge Entscheidungen beruhen dann auf einer möglichst umfassenden und genauen Analyse der Realität. "Vorsicht" bezieht sich auf Gefahren, die erkennbar oder zu erwarten sind... die "Voraussicht" bezieht sich auf Möglichkeiten, die real gegeben sind oder vorbereitet werden können.

Fragen, die zu klugen Entscheidungen führen können, sind also zusammengefasst:
  • Was ist (jetzt)?
  • Was ist wie geworden?
  • Was könnte geschehen?
  • Welche Möglichkeiten sind jetzt gegeben und welche könnten sich ergeben?

3. Selbsterhaltungsprinzip der Klugheit: "Achte auf die Zusammenhänge, in denen du lebst, und auf die Möglichkeiten, über die du verfügst" (PHL, S.223).

Spätestens hier dürfte deutlich sein, dass mit "Eigeninteresse" keinesfalls gemeint ist, einem Lebensprinzip zu folgen, das da lautet "ich bin wichtig und alles andere ist egal". Wenn ich Wilhelm Schmid richtig verstehe, ist völliges politisches Desinteresse und das Ausblenden gesellschaftlicher Zusammenhänge alles andere als klug (auch im eigenen Interesse). "Da die gesellschaftlichen Verhältnisse auf das Selbst zurückwirken, wäre es höchst unklug, sie in eine Richtung treiben zu lassen, die das eigene Leben des Selbst in Frage stellen könnte" (PHL, S. 224).

4. Umkehrgebot der Klugheit: "Berücksichtige das Eigeninteresse anderer in derselben Weise, wie du das eigene geltend machst" (PHL, S. 224)

Das Umkehrgebot kommt wohl so manchem irgendwie bekannt vor... als Goldene Regel, als kategorischer Imperativ bei Kant, der Wechsel der Perspektive hat Tradition. Voraussetzung dafür ist, dass "ein Selbst sich von der eigenen Perspektive zu lösen vermag, um den Perspektiven Anderer in seinem Denken und Handeln Rechnung zutragen" (PHL, S. 224). Klingt einfach, dürfte aber nicht immer gelingen - und dazu führen, dass eigene Interessen eben letzten Endes oft doch nicht besonders klug verfolgt werden...

5. Überheblichkeitsverbot der Klugheit: "Überhebe dich nie über Andere, um sie nur zum Mittel für eigene Zwecke zu missbrauchen" (PHL, S. 225)

6. Die konzentrischen Kreise der Klugheit: "Erweitere deinen Horizont"

Im Prinzip geht es hier um eine zunehmende Erweiterung des Horizonts in sozialer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Immer mehr mitzudenken, immer mehr einzubeziehen... nicht nur die eigene Person, sondern immer mehr andere Menschen bis hin zur Weltgemeinschaft. Nicht nur die eigenen vier Wände, sondern immer mehr "Umgebung" bis hin zur Erde als Ganzes. Nicht nur die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft, sondern immer mehr auch die Folgen des je eigenen Handelns für kommende Generationen in den Blick bekommen. Auch hier schwingt das Umkehrgebot indirekt mit, wenn es um das Leben künftiger Generationen geht, "denen die Sorge im selben Maße gilt, wie das Selbst die Sorge früherer Generationen für sich in Anspruch nimmt, sie jedenfalls gerne in Anspruch genommen hätte" (PHL, S. 226).
Klug also ist jemand, so könnte man im Sinne von Wilhelm Schmid sagen, der seinen Horizont zunehmend erweitert und aus aus einem zunehmend erweiterten Horizont immer klüger zu handeln vermag, weil immer mehr Aspekte, Folgen, Zusammenhänge und Konsequenzen berücksichtigt werden.

7. "Finde in vielerlei Hinsicht das richtige Mass."

Ich bin mir nicht sicher, ob man ein Philosoph sein muss, um irgendwann zur Einsicht zu gelangen, dass dogmatische und kategorische Forderungen, die mit den Begriffen "immer", "überall" und "ausnahmslos" versehen sind, nicht das "Gelbe vom Ei" sind. Es scheint eher ein Zeichen persönlicher Reife zu sein, differenzierter zu denken - Wilhelm Schmid bringt es hier sehr klar zum Ausdruck: kluge Maximen kennen ein " 'Je nachdem'. Mit dem richtigen Maß kann die Klugheit den Besonderheiten von Individuen und Situationen Rechnung tragen" (PHL, S. 226).
In der weiteren Beschreibung finden sich Grundprinzipien der Konfliktbewältigung wieder, die man auch als "Prinzipien für den Umgang mit Prinzipien" bezeichnen kann. Das "richtige Maß" zu finden bedeutet, zwischen Prinzipien ABZUWAGEN, es geht "um ein wohlüberlegtes Setzen von Prioritäten, ein Aufstellen von Hierarchien der Wichtigkeit und ein Bestimmen von Präferenzen" (PHL, S. 227) - und: den richtigen Zeitpunkt.
Das alles wirklich umzusetzen... ist alles andere als einfach. Zu verständlich sind die Bedürfnisse nach "Patentrezepten", klaren methodischen Hinweisen, wie man dieses und jenes am besten macht... genauer betrachtet sind sie allesamt unklug, denn unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Situationen gerecht zu werden setzt eben Flexibiltät und Balance voraus. Dort, wo es nicht gelungen ist, mag der eine oder die andere zu der Einsicht kommen, eine Dummheit begangen zu haben. Die Frage ist dann eben, ob sich daraus etwas lernen lässt, das der Entwicklung der eigenen Klugheit dienen kann.
"Aus der Sicht der Lebenskunst kann viel Klugheit darin liegen, Dummheiten nicht zu scheuen, denn wesentliche Lebenserfahrungen verdanken sich der Tatsache, unklug gewesen zu sein." (PHL, S. 228).


Literatur:
SCHMID, W. (2000). Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. (abgekürzt als PHL)


2 Kommentare:

  1. Ist es denn immer entscheident, wie klug jemand ist? Die Hauptsache ist doch, er kann sein Leben nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen führen. Wünsch dir noch einen schönen Sonntagabend. LG Volker

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  2. Ob es gelingt, das Leben nach den eigenen Möglichkeiten und Bedürfnissen zu führen, ist wirklich nicht nur eine Frage der Klugheit. Es hängt eben auch von den gegebenen Möglichkeiten ab. Im Rahmen der Möglichkeiten ist es aber eine Frage, was man daraus macht...
    Dir auch einen schönen Restsonntag. LG Rolf

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