Psychosophie

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In der Begegnung mit anderen Menschen können wir uns selbst und andere besser verstehen lernen. Wenn wir miteinander sprechen, begegnen sich subjektive Welten. Vielleicht entstehen daraus Einsichten, die für das je eigene Leben von Bedeutung sind.

Dienstag, 4. August 2009

Das echte Gespräch

Scheingespräche, Pseudokommunikation... die nette Insiderformulierung "da hat mir einer ein Gespräch geredet", was im Klartext bedeutet: das war ein Scheingespräch, da hat mir jemand nicht zugehört und ist auf meine Äußerungen nicht eingegangen... eine klare Definition für den Begriff "Scheingespräch" zu finden ist gar nicht so einfach. Mehrere Denkmodelle sind möglich und aus verschiedenen Gründen sinnvoll. Die eher unangenehme Einsicht ist, dass es sehr wenige echte, vollständige Gespräche gibt, und das hat viele Gründe. Was nun herauskam bei dem Versuch, zu klären, was ein echtes Gespräch denn nun ist und von einem Scheingespräch unterscheidet, ist eine Liste von Merkmalen.

1. Freiwilligkeit
Alle Beteiligten können frei entscheiden, ob und inwieweit sie sich am Gespräch beteiligen oder nicht.

2. Verantwortlichkeit
Alle Beteiligten stehen zu ihren Äußerungen, übernehmen Verantwortung für sich, ihre Aussagen und ihre Beziehungen - aber nicht füreinander.

3. Geteilte Situationsmacht
Alle Beteiligten können über Themen, Inhalte, Ort und Zeit des Gesprächs mitbestimmen.

4. Symmetrie und Wechselseitigkeit
Die Beteiligten sprechen "auf Augenhöhe" miteinander, es gibt kein deutliches Machtgefälle, keine einseitige Weisungsbefugnis.

5. Tauschbarkeit der Rollen
Alle Beteiligten können prinzipiell alle Rollen einnehmen.

6. Volle Verfügbarkeit über alle Sprechhandlungen
Alle Beteiligten können sich äußern und Fragen stellen.

7. Gesprächsregularien sind verhandelbar
Die Regeln, denen das Gespräch folgt, sind prinzipiell verhandelbar.

8. Gesprächsprozess und Ergebnis sind offen
Was im Verlauf des Gesprächs zum Thema wird, welche Schwerpunkte dabei gesetzt werden und was am Ende "dabei herauskommt", ist offen.

9. Äußerungen sind zu einem hohen Anteil auf Äußerungen anderer bezogen
Alle Beteiligten nehmen wieder aufeinander Bezug, greifen Äußerungen anderer auf, ergänzen, fragen, klären usw.

10. Es gibt kein Steuerungsmonopol
Alle Äußerungen können inhaltsbezogen, personbezogen oder verlaufsbezogen sein.

11. Freie Meinungsäußerung
Alle Beteiligten können ihre Meinung frei äußern, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.

12. Selbstbestimmung
Wer woraus welche Konsequenzen für das je eigene Verhalten bzw. Handeln zieht, ist offen - alle Beteiligten sind und bleiben für ihre Entscheidungen und Handlungen selbst veranwortlich.

Alle zwölf Merkmale einzufordern setzt die "Latte" sehr hoch an - dann gibt es nur sehr wenige echte Gespräche, die meisten sind eben auf die eine oder andere Art "Pseudo". Realistisch ist also der Gedanke, dass Gespräche meist personal, situativ und thematisch eingeschränkt sind. Ob und inwieweit das in welcher Situation sinnvoll und angemessen ist, darüber lässt sich viel nachdenken... Immerhin: anhand der Merkmale lassen sich Ansatzpunkte bestimmen, die zu einer Vervollständigung "unechter Gespräche" führen können. Lernen und lehren kann man echte Gespräche genau genommen überhaupt nicht - denn ein Seminar zum Thema "echte Gesprächsführung" würde durch den Rahmen bereits Rollenmuster und eine inhaltliche Struktur vorgeben. Die Hintergründe für verschiedene Einschränkungen in Gesprächen lassen sich auch nicht so ohne weiteres aufzulösen - sich all diese Dinge bewusst zu machen bedeutet aber, sich von der Illusion zu befreien, Lehrer könnten mit Schülern, Vorgesetzte könnten mit Mitarbeitern wirklich echte Gespräche führen.
Eingeschränkt und damit unecht und defizitär werden die meisten Gespräche durch Situations- und Rollenmuster. Muster, die uns so selbstverständlich erscheinen, als seien sie "vom Himmel gefallen". Das sind sie aber nicht... sie haben sich entwickelt und etabliert, können mehr oder weniger sinnvoll sein. Die Frage ist, worin das Scheinbare des Scheinbaren wirklich besteht - Vorgesetzte, die von "flachen Hierarchien" sprechen und mit Sprüchen wie "wir sind ein Team" Symmetrie vortäuschen, verschleiern damit im Grunde nur die Realität ungleicher Rechte. Lehrer, die glauben, sie könnten mit ihren Schülern wirklich "ins Gespräch" kommen, täuschen sich über die Beschränkungen hinweg, die mit vorgegebenen Lehrplänen verbunden sind. Authentisch sind nur jene Gespräche, in denen das Unechte des Unechten erkannt und auch benannt werden kann.

4 Kommentare:

  1. Lieber Rolf,
    ich fühle mich echt befreit... grummel... aber Recht hast du natürlich! Ich werde also in Zukunft meine Gespräche in der Schule im vollen Bewusstsein führen, dass es gar keine sind. Tja. Scheiss Spiel...
    Trotzdem liebe Grüsse,
    Dodo
    (Die dich sehr wohl richtig verstanden hat ;-) Schliesslich bin ich 1. freiwillig hier am Lesen und Schreiben, stehe 2. zu meinen Äusserungen, entscheide 3. selbst, wann ich...)

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  2. Hallo Dodo,
    so ganz glücklich war ich mit den Begriffen "Scheingespräch" und "defekte Situation" nie... realistisch betrachtet haben Lehrkräfte in der Schule aber gar keine Chance, Gesprächsfähigkeit mit allem Drum und Dran zu entwickeln. Es geht eben nicht, zu fragen 'Hallo, wie geht's Euch denn, worüber wollen wir uns denn heute unterhalten?' - die Möglichkeiten sind begrenzt. Umso wichtiger scheint mir dann aber auch, das auszuloten, was tatsächlich möglich ist.

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  3. Ich habe diesbezüglich mit dem Klassenrat gute Erfahrungen gemacht. Nicht in jeder Klasse, aber es gab welche, da konnten echte Projekte erarbeitet werden. Da habe ich mich dann mehr und mehr zurückgenommen und nur noch darauf geschaut, dass die Leitplanken eingehalten wurden. Die Kinder waren voll bei der Sache. Ich glaube, das kam einem "echten" Gespräch am nächsten. Oder halt, wenn die Kinder was erzählen kommen in der Pause.
    Aber auf jeden Fall hast du mich sensibilisiert. Danke.

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  4. Selbstgesteuertes und interessegeleitetes Lernen ist intensiver... aber was genau ist ein "Klassenrat"?

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