Ein Artikel in der ZEIT: Interview mit dem britischen Sozialforscher Richard Wilkinson. Der Kerngedanke: Ungleichheit löst eine Menge an Problemen aus. Es gibt sehr viele Kommentare zu diesem Interview, in einem davon ist der Hinweis auf eine kritische Analyse der Theorie enthalten, dem ich dann doch einmal nachgehen wollte...
"Inequality as a Social Cancer" lautet der Titel des Artikels im Wall Street Pit, Ungleichheit also wird als 'sozialer Krebs' beschrieben. Darin wird das Buch erwähnt, das Richard Wilkinson und Kate Pickett geschrieben haben. Die zentrale Botschaft des Buches: Ungleichheit (also große Unterschiede im Einkommen) machen viele Dinge schlechter, um die wir uns Sorgen machen. 23 Staaten wurden untersucht, und dabei zeigten sich bestimmte Zusammenhänge:
Große Einkommensunterschiede führen zu...
"Inequality as a Social Cancer" lautet der Titel des Artikels im Wall Street Pit, Ungleichheit also wird als 'sozialer Krebs' beschrieben. Darin wird das Buch erwähnt, das Richard Wilkinson und Kate Pickett geschrieben haben. Die zentrale Botschaft des Buches: Ungleichheit (also große Unterschiede im Einkommen) machen viele Dinge schlechter, um die wir uns Sorgen machen. 23 Staaten wurden untersucht, und dabei zeigten sich bestimmte Zusammenhänge:
Große Einkommensunterschiede führen zu...
einer geringeren Lebenserwartung,
höherer Kindersterblichkeit,
einem größerem Ausmaß an psychischen Störungen,
mehr Fettleibigkeit,
einen höheren Anteil an Teenagerschwangerschaften,
mehr Mordfällen und
einer geringeren Aufwärtsmobilität.
Soweit es sich dem Artikel entnehmen lässt, liegen Korrelationsdaten vor - damit sind Kausalaussagen streng genommen fragwürdig. Präziser ist also die Interpretation, dass zwischen sozialer Ungleichheit und vielen anderen Faktoren Zusammenhänge bestehen - und dort, wo es weniger Ungleichheit gibt, eben eine höhere Lebenserwartung, weniger Kindersterblichkeit, weniger psychische Störungen usw. auftreten.
Wilkinson und Pickett kommen zu dem Schluss, dass das Problem in reichen Staaten nicht darin besteht, dass sie nicht genug Geld haben (die Paradoxie der Aussage ist dabei ein Thema für sich, Stichwort Staatsverschuldung, Sonderthema...). Das Problem ist, dass die Einkommensunterschiede zu groß sind.
Und so denkt eben der eine darüber nach, ob er sich ein Brötchen kaufen kann, während der andere ein neues Hotel aufmacht... Nun bleibt der Autor des Artikels im Wall Street Pit (namentlich: Lane Kennworthy) aber skeptisch: kann man viele soziale Probleme lösen, wenn man einfach die Ungleichheit reduziert?
Aus methodischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen heraus kann ich mich dieser Skepsis direkt anschließen - denn die Schlußfolgerungen, die aus Korrelationsdaten kausale Aussagen ableitet, sind immer problematisch. Entsprechend fragt Lane Kennworthy dann auch: What's the causal link? Also: wo sind denn nun die kausalen Zusammenhänge, was ist Ursache und was Wirkung?
Überlegenswert: führt Ungleichheit im Einkommen zu einer Ungleichheit in der Gesundheitsversorgung, Bildung usw.? Als Beleg verweist er auf ein Buch von Kathryn Neckerman (wirklich mit einem 'N'!) aus dem Jahr 2004, in dem es um die deutlich größer gewordenen Einkommensunterschiede in den USA geht. Nun beziehen sich Wilkinson und Pickett ja auf Durchschnittswerte - und berücksichtigen dabei durchaus den Gedanken, dass dabei vermittelnde Faktoren im Spiel sein können.
Eine These zu diesen vermittelnden Faktoren lautet:
Ungleichheit verschärft den Konkurrenzkampf und damit Stress und Angst - und das schlagt sich in sozialer Dysfunktionalität nieder.
Sozialer Status ist also bei Ungleichheit sehr wichtig. Mit Kausalaussagen sind die beiden trotzdem vorsichtig:
"Greater inequality is likely to be accompanied by increased status competition and increased status anxiety." (Wilkinson & Pickett, zitiert nach Wall Street Pit).
Auf deutsch also: größere Ungleichheit wird von höherem Statuswettbewerb und erhöhter Statusangst begleitet.
Die eigentliche vermittelnde Variable ist Stress. Stress ordnen sie in drei zentrale Kategorien ein: niedriger Sozialstatus, fehlende Freundschaftsbeziehungen und Belastungen aus den ersten Lebensjahren. Diese Faktoren entscheiden darüber, wieviel Vertrauen man anderen Menschen entgegen bringen kann, in welchem Ausmass Ängste auftreten.
Die Aussagen über Stress und Psyche sind im Grunde nicht neu - dass die Psyche das Nervensystem und das Immunsystem beeinflusst und damit ein hohes Mass an Belastungen auch so allerlei körperliche und psychische Störungen auslösen kann, ist eine grundsätzliche Einsicht in der Psychosomatik. An dieser Stelle findet sich dann auch die Erklärung für den merkwürdig anmutenden Zusammenhang 'Ungleichheit macht fett': ein hohes Mass an Stressbelastung beeinflusst das Ernährungsverhalten und (nette Formulierung:) 'makes us put on weight in the worst places'. Also: das Fett sammelt sich an den denkbar ungünstigsten Stellen an (wo das ist, darf jede/r selbst erraten). Nach diesem Ausflug in die sozialökonomische Ökotrophologie ein kurzer Blick auf den Bildungsbereich. Lernen geschieht am besten in einer entspannten, anregenden Umgebung - starke negative Gefühle stören. Auch das ist nicht neu.
Der kritische Einwand, den Lane Kennworthy zum Buch von Wilkinson und Pickett vorbringt, bezieht sich auf die Frage, wie stark der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Konkurrenzdenken denn nun wirklich ist. Bezogen auf die USA führt er hier die optimistische Einschätzung der Amerikaner an, aufwärtsmobil sein zu können. Anders formuliert: soziale Ungleichheit ist als Problem weniger gravierend, wenn es Möglichkeiten gibt, durch sozialen Aufstieg den unteren Einkommensregionen zu entkommen. Das nun ist durchaus eine handfeste These, die wiederum für die Vorstellung spricht, dass viele Faktoren im Spiel sind und eine einfache Aussage über Ursache und Wirkung nicht so ganz - zumindest nicht durchgängig - stimmen kann.
Provisorisch möchte ich den Zusammenhang (unter Berücksichtigung des Einwands von Kennworthy) einmal neu formulieren:
Soziale Ungleichheit ist die Wurzel vieler Probleme. Besonders problematisch aber wird es, wenn es für die Angehörigen im Niedrig(st)lohnsektor keine Möglichkeit gibt, sich (bezogen auf Status und Einkommen) zu verbessern. Weiter oben ist es aber auch schwer: wer ein Wedekinggehalt bezieht, Außenminister oder Papst geworden ist, hat wirklich nicht mehr viele Möglichkeiten, sich beruflich zu verbessern...
Weitere Einwände beziehen sich auf die einzelnen Zusammenhänge, zwischen Ungleichheit und Lebenserwartung etwa - und sie folgen immer wieder der Frage, wie groß und wie eindeutig die Korrelationen wirklich sind. Bezieht man sich etwa auf die Daten der Luxemburger Einkommensstudie, läßt sich der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung nicht bestätigen. Und der Grund liegt eben darin, dass hier einige Länder nicht berücksichtigt sind - damit ist aber auch die These widerlegt, dass große Einkommensunterschiede in allen Ländern zu einer geringeren Lebenserwartung führen. Längssschnittstudien zeigen außerdem, dass in manchen Ländern soziale Ungleichheit und die Lebenserwartung gleichzeitig gestiegen sind. Im Vergleichszeitraum zwischen 1980 und 2005 gilt das für die meisten europäischen Länder - und auch für die USA.
Wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt im Vergleich verschiedener Länder einen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Aspekten der Lebensqualität gibt - dann müsste sich doch dieser Zusammenhang auch innerhalb eines Landes zeigen, wenn man einen längeren Zeitraum betrachtet. Dieser Einwand ist bedenkenswert, denn er macht die Prognose (Ungleichheit abbauen und damit viele andere Probleme ebenfalls lösen oder zumindest entschärfen) sehr fragwürdig.
Es wäre schön, wenn es so einfach wäre - "I wish it were that simple", schreibt Kennworthy. Leider muss ich ihm da zustimmen. Als Theorie möchte ich den Ansatz von Wilkinson & Pickett nicht verwerfen, auch wenn einzelne Hypothesen mehr als wackelig sind. Aber die Vorstellung 'jetzt bauen wir mal die soziale Ungleichheit ab, dann wird sich schon manches andere auch richten' ist dann doch zu naiv.
So einfach ist es eben nicht. Trotz allem - man kann sich ja auch darin irren, dass man sich irrt. Vielleicht ist am postulierten Zusammenhang ja doch mehr dran, als sich im Moment erkennen lässt.
Bleibt noch zu erwähnen, dass es eine von Wilkinson und Pickett gegründete Stiftung "Gleichheit" gibt - dort lassen sich auch Hintergrundinformationen in englischer Sprache als PDF-Dateien herunterladen.
Literatur:
Richard Wilkinson & Kate Prickett (2010). Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für uns alle besser sind.
Quellen:
DIe Mittelklasse irrt - Interview mit Richard Wilkinson. DIE ZEIT, Abruf am 30.03.2010.
Lane Kennworthy. Inequality as a Social Cancer. Wall Street Pit, Abruf am 30.03.2010.
Die Aussagen über Stress und Psyche sind im Grunde nicht neu - dass die Psyche das Nervensystem und das Immunsystem beeinflusst und damit ein hohes Mass an Belastungen auch so allerlei körperliche und psychische Störungen auslösen kann, ist eine grundsätzliche Einsicht in der Psychosomatik. An dieser Stelle findet sich dann auch die Erklärung für den merkwürdig anmutenden Zusammenhang 'Ungleichheit macht fett': ein hohes Mass an Stressbelastung beeinflusst das Ernährungsverhalten und (nette Formulierung:) 'makes us put on weight in the worst places'. Also: das Fett sammelt sich an den denkbar ungünstigsten Stellen an (wo das ist, darf jede/r selbst erraten). Nach diesem Ausflug in die sozialökonomische Ökotrophologie ein kurzer Blick auf den Bildungsbereich. Lernen geschieht am besten in einer entspannten, anregenden Umgebung - starke negative Gefühle stören. Auch das ist nicht neu.
Der kritische Einwand, den Lane Kennworthy zum Buch von Wilkinson und Pickett vorbringt, bezieht sich auf die Frage, wie stark der Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Konkurrenzdenken denn nun wirklich ist. Bezogen auf die USA führt er hier die optimistische Einschätzung der Amerikaner an, aufwärtsmobil sein zu können. Anders formuliert: soziale Ungleichheit ist als Problem weniger gravierend, wenn es Möglichkeiten gibt, durch sozialen Aufstieg den unteren Einkommensregionen zu entkommen. Das nun ist durchaus eine handfeste These, die wiederum für die Vorstellung spricht, dass viele Faktoren im Spiel sind und eine einfache Aussage über Ursache und Wirkung nicht so ganz - zumindest nicht durchgängig - stimmen kann.
Provisorisch möchte ich den Zusammenhang (unter Berücksichtigung des Einwands von Kennworthy) einmal neu formulieren:
Soziale Ungleichheit ist die Wurzel vieler Probleme. Besonders problematisch aber wird es, wenn es für die Angehörigen im Niedrig(st)lohnsektor keine Möglichkeit gibt, sich (bezogen auf Status und Einkommen) zu verbessern. Weiter oben ist es aber auch schwer: wer ein Wedekinggehalt bezieht, Außenminister oder Papst geworden ist, hat wirklich nicht mehr viele Möglichkeiten, sich beruflich zu verbessern...
Weitere Einwände beziehen sich auf die einzelnen Zusammenhänge, zwischen Ungleichheit und Lebenserwartung etwa - und sie folgen immer wieder der Frage, wie groß und wie eindeutig die Korrelationen wirklich sind. Bezieht man sich etwa auf die Daten der Luxemburger Einkommensstudie, läßt sich der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung nicht bestätigen. Und der Grund liegt eben darin, dass hier einige Länder nicht berücksichtigt sind - damit ist aber auch die These widerlegt, dass große Einkommensunterschiede in allen Ländern zu einer geringeren Lebenserwartung führen. Längssschnittstudien zeigen außerdem, dass in manchen Ländern soziale Ungleichheit und die Lebenserwartung gleichzeitig gestiegen sind. Im Vergleichszeitraum zwischen 1980 und 2005 gilt das für die meisten europäischen Länder - und auch für die USA.
Wenn es zu einem bestimmten Zeitpunkt im Vergleich verschiedener Länder einen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Aspekten der Lebensqualität gibt - dann müsste sich doch dieser Zusammenhang auch innerhalb eines Landes zeigen, wenn man einen längeren Zeitraum betrachtet. Dieser Einwand ist bedenkenswert, denn er macht die Prognose (Ungleichheit abbauen und damit viele andere Probleme ebenfalls lösen oder zumindest entschärfen) sehr fragwürdig.
Es wäre schön, wenn es so einfach wäre - "I wish it were that simple", schreibt Kennworthy. Leider muss ich ihm da zustimmen. Als Theorie möchte ich den Ansatz von Wilkinson & Pickett nicht verwerfen, auch wenn einzelne Hypothesen mehr als wackelig sind. Aber die Vorstellung 'jetzt bauen wir mal die soziale Ungleichheit ab, dann wird sich schon manches andere auch richten' ist dann doch zu naiv.
So einfach ist es eben nicht. Trotz allem - man kann sich ja auch darin irren, dass man sich irrt. Vielleicht ist am postulierten Zusammenhang ja doch mehr dran, als sich im Moment erkennen lässt.
Bleibt noch zu erwähnen, dass es eine von Wilkinson und Pickett gegründete Stiftung "Gleichheit" gibt - dort lassen sich auch Hintergrundinformationen in englischer Sprache als PDF-Dateien herunterladen.
Literatur:
Richard Wilkinson & Kate Prickett (2010). Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für uns alle besser sind.
Quellen:
DIe Mittelklasse irrt - Interview mit Richard Wilkinson. DIE ZEIT, Abruf am 30.03.2010.
Lane Kennworthy. Inequality as a Social Cancer. Wall Street Pit, Abruf am 30.03.2010.