Diagnosen sind praktisch. Sie sind im
therapeutischen Alltag so geläufig, dass die Frage, ob Diagnosen hilfreich
sind, abwegig oder zumindest überflüssig zu sein scheint. Etwas anders sieht
die Sache aus, wenn Diagnosen nicht akzeptiert werden - und damit unter
Kollegen, zwischen therapeutischen Disziplinen oder in der unmittelbaren
therapeutischen Interaktion potentiell zum Konfliktstoff werden. Es bedarf dann
vielleicht einer besonderen therapeutischen Geschicklichkeit, eben diese Frage
zum Thema, und damit die prinzipielle Strittigkeit jeder Diagnose therapeutisch
fruchtbar zu machen. Wer glaubt, sich durch den Bezug auf objektive Fakten
einer Diskussion entziehen zu können, täuscht sich. Vor einigen Jahren erlebte
ich die disziplinarische Entlassung eines Patienten, dem nach einer Heimfahrt
Heroinkonsum unterstellt wurde - weil das Drogenscreening bei Opiaten
angeschlagen hatte. Genommen hatte er tatsächlich etwas, ein Schmerzmittel. Bis
in den letzten Winkel hinein aufgeklärt wurde der Fall nicht - aber der
Automatismus, mit dem seitens der Klinikleitung dem objektiven Befund, der
Heroinkonsum zu beweisen schien, a priori ein höherer Stellenwert eingeräumt
wurde als der Möglichkeit, der Patient könnte schließlich auch die Wahrheit
gesagt haben, gibt mir auch heute noch zu denken. Hätte mich jemand gefragt,
wäre es nicht zu dieser disziplinarischen Entlassung gekommen - auch deshalb,
weil mein persönliches Verständnis dem Prinzip der Unterstützung gegenüber dem
konfrontativen Disziplinieren immer den Vorrang gibt. Diagnose 'Rückfall', also
disziplinarische Entlassung - an diesem Beispiel wollte ich zeigen, dass
Diagnosen eben nicht immer hilfreich sind, als Machtinstrument missbraucht
werden können. In anderen Fällen sind sie vielleicht einfach nur unnütz,
irreführend, oder auch stigmatisierend. Über die Frage, ob man allen, die in
ihrer Persönlichkeit irgendwie auffällig sind, unbedingt eine
Persönlichkeitsstörung 'anhängen' muss, lässt sich ebenso trefflich streiten.
Leider werden (wenigstens meiner Erfahrung nach) solche Diskussionen zu gern
unter den Teppich gekehrt, immer wieder 'per Autorität' (und damit autoritär)
entschieden, sprich: nicht mit vernünftigen Argumenten ausgetragen sondern
durch Machtausübung entschieden. Insgesamt komme ich zu dem Schluss, dass
Diagnosen nicht immer hilfreich sind. Wertvoll ist dann aber auch die Klärung
der Frage, unter welchen Bedingungen denn nun Diagnosen wirklich hilfreich
sind. Und - ob sie auch mitgeteilt werden sollten. Recht simpel erscheint die
Vorstellung, dass Diagnosen dann sinnvoll sind, wenn sie nicht nur zutreffend,
sondern auch von allen Beteiligten akzeptiert werden. Dann aber ist es
vielleicht sinnvoll, im Einzelfall die Akzeptanz einer bestimmten Diagnose zu erarbeiten,
wenn sie nicht 'selbstverständlich' gegeben ist - wodurch Krankheitsakzeptanz
zum Thema in der Therapie wird. Auch das kann durchaus sinnvoll sein. Denn aus
einer Diagnose ergeben sich im günstigen Fall konkrete Ansatzpunkte, Ziele und
Methoden, Handlungsanweisungen und Strukturierungsansätze für die Therapie
selbst, aber auch die weitere Lebensgestaltung des Patienten. Aus der Diagnose
ergibt sich, welche Form therapeutischen Handelns angemessen ist, worauf es im
Umgang mit einer Krankheit ankommt und wie die mit ihr zusammenhängenden Probleme
bearbeitet werden können. Diagnosen also können helfen, dass dumpfe Ahnen, dass
'da etwas nicht in Ordnung ist', konkret werden zu lassen, dem Ding einen Namen
zu geben und alles, was darum und darum herum geschehen soll, zu ordnen. Die
Vorstellung, dass die Diagnose dabei unbedingt am Anfang der Therapie stehen
müsse, lehne ich allerdings ab - denn so manches zeigt sich erst im Verlauf,
der Verzicht auf Korrektur, Ergänzung oder Revision einer Diagnose im Verlauf
einer Therapie ist meiner Ansicht nach ein Kunstfehler. Ein vorläufiger Rahmen
genügt völlig - sofern er bei neuen Informationen oder Erkenntnissen auch
ergänzt und modifiziert wird. Hängen geblieben ist in meinem Kopf auch das
Grundverständnis von Diagnostik als kooperativem Erkenntnisprozess - dieser
Impuls geht auf eine Doktorarbeit von Peter Fischer mit dem Titel "Diagnostik
als Anleitung zur Selbstreflexion" zurück. Es führt weg von der
Vorstellung, Diagnostik vollziehe sich im beziehungsleeren Raum, bestünde
darin, dass ein erkennendes Subjekt (als
Diagnostiker) einem zu erkennenden
Objekt (sprich Patienten) ein "Etikett" namens
"Diagnose" nach DSM, ICD oder ICF "aufklebt". Im
gemeinsamen Finden eines Rahmens, der helfen kann, etwas Unklares und
Belastendes in Worte zu fassen, gewinnen Diagnosen eine ganz andere Bedeutung
als gemeinhin üblich. All das stößt einte Diagnose grundsätzlich vom Thron des
Unanfechtbaren. Diagnosen sind nichts weiter als Hilfsmittel, um Probleme zu
ordnen und Lösungen möglich zu machen - wenn sie dazu nicht taugen, haben sie
keinen Wert und keine Berechtigung. Aus Patientensicht können und müssen
Diagnosen hinterfragbar sein: es ist immer ein Zeichen des Fachkundigen,
Diagnosen erklären und begründen zu können. Wer das nicht kann, diagnostiziert
eben laienhaft, was nicht unbedingt falsch, aber zumindest fragwürdig ist.
Professionalität zeigt sich regelmäßig im Bemühen um Fundierung - die gesamte
Palette medizinischer und psychologischer Diagnostik dient dem Zweck, bei
Bedarf Vermutungen zu untersuchen, abzustützen oder eben auch zu korrigieren.
Dass man sich dabei auch 'totdiagnostizieren' kann, liegt auf der Hand. Das
richtige Maß, die Verhältnismäßigkeit eingesetzter Verfahren gegenüber
Fragestellungen, Relevanz des Problembereichs, möglichem Nutzen aber auch mit
diagnostischen Verfahren verbundene Belastungen und Risiken sind abzuwägen. Es
gibt Lehrbücher dazu, die sich mit einzelnen Fragen genauer beschäftigen -
zunächst einmal scheint es eine allgemeine Gefahr zu geben, beim
Diagnostizieren in Routine und Automatismen zu verfallen. Zum 'Wachbleiben' an
dieser Stelle ist das gelegentliche Hinterfragen von Diagnosen und Diagnostik
überhaupt sicherlich empfehlenswert. Sobald die Überzeugung sich in Sicherheit
wiegt, markieren die Worte "so ist es" das Ende des Nachdenkens und
Weiterfragens. Eine wichtige und noch unbeantwortete Frage bezieht sich auch
das implizite Verständnis von Gesundheit, das jedem Diagnosesystem zugrunde
liegt. Immer dann, wenn solche Systeme überarbeitet werden, lässt sich auf eine
Veränderung im Verständnis dessen schließen, was als gesund oder krank gelten
kann, gelten soll. Neue erkannte Probleme erweitern oder verändern dieses
Verständnis, aber auch Modifikationen bezüglich der diagnostischen Kriterien
zeigen Entwicklungen auf. Wer sich an solche Systeme gewöhnt hat, versteht
Krankheiten als "durch bestimmte Kriterien definiert" - und befindet
sich damit vielleicht schon sehr weit weg vom Alltagsverständnis, in dem eben
auch bestimmte Dinge als "krank" bezeichnet werden, ohne dass ein
explizites oder auch nur reflektiertes Kriteriensystem zugrunde gelegt wird.
Und das bedeutet nicht mehr oder weniger als ein potentieller Dissens zwischen
Therapeuten und Zu-Behandelnden, die sich ihrer Behandlungsbedürftigkeit nicht
notwendigerweise bewusst sind. Der vielleicht naheliegend erscheinende Schluss,
dass alles, was als Krankheit erkannt wurde, von den Betroffenen auch als
solche akzeptiert wird, ist trügerisch. Wenn dieser potentielle Dissens
akzeptiert wird, kann das bedeuten, dass Alltagsmodelle von Gesundheit und
Krankheit im Einzelfall sinnvollerweise zum Thema werden sollten, um
Diagnosestellung und damit verbundene Indikationen nachvollziehbar zu machen -
und damit einen vielleicht wesentlichen und notwendigen Schritt zur Akzeptanz
bestimmter Behandlungsmethoden zu gehen. Im Umgang mit Schmerzen werden
subjektive Krankheitsmodelle (in der Literatur auch als Health Beleif Model
bezeichnet) oft zum Problem. Die Vorstellung, dass Schmerzen, die irgendwo im
Körper lokalisiert werden können, auch körperliche Ursachen haben müssten, ist
falsch. Im Alltag allerdings klingt das logisch - wenn es also irgendwo weh
tut, ist eine körperliche (oder somatische) Ursache zu vermuten, und erst dann,
wenn vielleicht nach vielen Jahren "Ärzteshopping" nun wirklich
nichts gefunden wurde, öffnet sich vielleicht der Weg zur Annahme, da könnte
auch etwas "Psychisches" im Spiel sein. Erst dann, wenn sich das
Krankheitsmodell erweitert hat, wird eine Diagnose wie "somatoforme
Schmerzstörung" akzeptabel sein. Anders formuliert bedeutet das, dass
subjektive Krankheitsmodelle dem Annehmenkönnen einer Diagnose im Wege stehen
können. Akzeptanz hat dabei verschiedene Ebenen. Im Prinzip einzusehen, dass es
"da ein Problem gibt", bedeutet noch nicht, auch das dafür gewählte
Etikett zu akzeptieren, und selbst dann, wenn die Diagnose "im Kopf"
angenommen wird, kann sie rein gefühlsmäßig so unangenehm und belastend sein,
dass sich das innere Annehmen im Sinne emotionaler Zustimmung mit allen sich
daraus ergebenden Konsequenzen verzögert oder stark konfliktbesetzt sein kann.
Genau dann sollte das Problemfeld aber auch Thema in der Therapie sein dürfen, was
voraussetzt, dass Therapeuten sich ihrer impliziten Voraussetzungen bewusst
werden und sie zu thematisieren und hinterfragen imstande sind. Die
therapeutische Grundhaltung geht dabei gewissermaßen einen Schritt zurück: von
der Expertenhaltung "ich weiß, was gesund und krank ist" hin zur
Verständigung über den Rahmen, in den die Probleme der Patienten eingeordnet
werden, verbunden mit der Frage, ob dieser Rahmen als gemeinsam akzeptierte
Grundlage für die weitere Behandlung (bzw. für die Frage, ob und wenn ja welche
Behandlung überhaupt erfolgen soll) dienen kann. Der Konsens über die
Angemessenheit der verwendeten Diagnosesysteme wird also nicht mehr
stillschweigend vorausgesetzt. Genauso wenig kann vorausgesetzt werden, dass
therapeutische Ziele, wie sie für Antragstellungen und Berichte Kostenträgern
gegenüber darzustellen sind, aus dem Alltagsverständnis ableitbar sind. Die
Wissensbestände, die erforderlich sind, um sinnvolle und umsetzbare,
erreichbare und einer bestimmten Diagnose entsprechende Ziele überhaupt
formulieren zu können, sind keinesfalls Alltagswissen - die Frage nach den
therapeutischen Zielen für jene, die zum allerersten Mal überhaupt mit Psychotherapie
zu tun haben, deshalb in der Regel eine Überforderung. Psychotherapie als einen
Prozess zu begreifen, der durch Patienten bewusst und gezielt gesteuert werden
kann, ist potentiell lernbedürftig - und muss vielleicht erst erklärt werden,
bevor er wirklich in Gang kommen kann.
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In der Begegnung mit anderen Menschen können wir uns selbst und andere besser verstehen lernen. Wenn wir miteinander sprechen, begegnen sich subjektive Welten. Vielleicht entstehen daraus Einsichten, die für das je eigene Leben von Bedeutung sind.
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Sonntag, 8. Juli 2012
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Ach wie schön, sowas mal von einem Profi zu hören bzw. zu lesen! Du sprichst mir auch dem Herzen!
AntwortenLöschenUnd ganz nebenbei: Herzliche Grüsse mal wieder!
Dodo
Danke, und ganz nebenbei... auch mal wieder herzliche Grüße!
AntwortenLöschenRolf